Als Jusos ist uns klar und hinreichend bewiesen, dass eine Schuldenbremse nichts im Grundgesetz verloren hat und gestrichen gehört. Diesbezüglich gab es innerhalb der Jusos und auch innerparteilich viele Debatten. Es bildet sich zunehmend eine Mehrheit heraus, die sich für eine Streichung der Schuldenbremse im Grundgesetz stark macht, wie auch der Parteikonvent im Willy-Brandt-Haus zeigte. Als Jusos wollen wir auch weiterhin für dieses Anliegen kämpfen, debattieren und streiten.
Parallel sind auch in der gegenwärtigen „Zukunftskoalition“ natürlich nicht nur die Stimmen innerhalb der SPD, welche sich weiterhin für die Schuldenbremse aussprechen, ein Hindernis. Vor allem die FDP und besonders der Bundesminister für Finanzen Christian Lindner sind heißblütige Verfechter der Schuldenbremse. Gerade die FDP begründet dies mit teils neo-klassischen Wirtschaftstheorien und Ansätzen, welche nicht nur empirisch im großen Ausmaß veraltet und widerlegt sind. Ein Streichen der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz ist aktuell kaum umsetzbar, da der Widerstand auch außerhalb von Partei und Koalition groß ist.
Man kann natürlich Verfechter*in von inaktuellen Wirtschaftstheorien sein. Die Problematik besteht darin, dass der Finanzierungs- und Investitionsbedarf enorm ist. Der Kapitalismus hat seine Krisenanfälligkeit bewiesen, so dass schon vor der Corona-Pandemie Ungerechtigkeiten immer größer werden und die Armuts(-gefährdung) steigt. Zusätzlich hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu einem Angebotsschock geführt und die aktuelle Inflation frisst das letzte Vermögen von Menschen und sowieso finanziell prekären Situationen. In Vergleich zu anderen Staaten, wie bspw. den USA, kommt die Wirtschaft in Deutschland nicht wieder in Fahrt. Weiterführend sind wir sogar die einzige große Volkswirtschaft, die aktuell kein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hat.
Die Summe dieser Verhältnisse und vieler weitere lassen uns zu der Auffassung kommen, dass es einen enormen Finanzierungs- und Investitionsbedarf gibt. Dafür reicht ein „gewöhnlicher“ Haushalt nicht aus – hier muss Geld in die Hand genommen werden. Es brauch Schritte in Richtung einer progressiven und zukunftsfähigen Finanzpolitik.
Im Grundgesetzt ist die jährliche Nettokreditaufnahme bei 0,35% begrenzt, jedoch ist eine konjunkturelle Entwickelung, welche von einer „Normallage“ der Wirtschaft abweicht bei der Begrenzung der Nettokreditaufnahme (symmetrisch) zu berücksichtigen ist. „Das Verfahren zur Berechnung der maximal zulässigen Nettokreditaufnahme und insbesondere der Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung ist nicht im Grundgesetz festgehalten. Es ist einfachgesetzlich geregelt“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 1). Dies bedeutet, dass die Bundesregierung jederzeit die Chance hat das Verfahren zur Berechnung anders zu definieren. Als Basis dienen dabei die Budgetsemielastizität und die Produktionslücke. Die Produktionslücke ist dabei ein Dreh- und Angelpunkt, denn „die Produktionslücke entspricht der Differenz zwischen dem geschätzten Produktionspotenzial (der Normallage) der Volkswirtschaft und dem erwarteten tatsächlichen BIP“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 1). Die genaue Beschreibung bzw. Definition des Begriffs „Normallage“ wird nicht getätigt: „Die Bestimmung der Konjunkturkomponente und damit die Höhe der maximal zulässigen Nettokreditaufnahme (ist) am Ende stark von der Auslegung des Begriffs Normalauslastung abhängig, der im rechtlichen Kontext nicht weiter spezifiziert wird“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 2).
Die Situation, dass der Begriff Normallage nicht konturiert ist, ist gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheiten problematisch. Allerdings birgt er auch den Vorteil, dass die Bundesregierung diesen gestalten kann. In der aktuellen Ermittlung der Konjunkturkomponente werden dabei auf unterschiedliche, mitunter kritische, Merkmale und Modelle zurückgegriffen, welche eine progressive ökonomische Sichtweise nicht ermöglichen oder zumindest stark behindern. So erfolgt die Schätzung des Produktionspotenzials durch eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion. Solche Modelle sind weit verbreitet und werden häufig benutzt. Geprägt sind sie allerdings durch die neo-klassische Ökonomik. Bei diesem Modell wird bspw. die komplette Nachfrageseite ignoriert und nimmt eine Vollauslastung der Kapazitäten an. Nicht nur aus sozialdemokratischer Brille, sondern auch durch eine progressiv-ökonomische Sichtweise kommt man schnell zur Erkenntnis, dass dies nicht der Fall ist und mit der Realität nicht viel zu tun hat. Allzu oft werden die Berechnungen einfach auf Basis statistischer Werte der vergangenen Jahre vollzogen. Die Schätzung des Arbeitspotenzials mit der NAWRU (non-accelerating wage rate of unemployment) getätigt. Die NAWRU ist die Höhe der Arbeitslosenquote, bei welcher es bei einer Unterschreitung dieser zu einer beschleunigten Inflation kommt. Als Grundlage der NAWRU dient die Phillips-Kurve, die einen negativen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beschreibt (niedrige Arbeitslosigkeit = hohe Inflation und andersherum).
Einerseits heißt das in der Konsequenz, dass eine echte Vollbeschäftigung nicht angestrebt wird, da man sich ansonsten mit einer beschleunigten Inflation konfrontiert sieht. Jedoch: „Das Grundgesetz gewährt zwar kein Recht auf Arbeit, jedoch lässt sich dem Sozialstaatsprinzip und den Grundrechten auf Berufsfreiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit der Verfassungsauftrag entnehmen, auf Vollbeschäftigung hinzuwirken“ (Korioth, Müller (2021): 4). Bspw. ist die Partizipationsraten von FINTA-Personen vor allem in Süd- bzw. Westdeutschland auf dem Arbeitsmarkt gering, aber auch viele weitere Personengruppen haben einen schlechten Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine sozialdemokratische Partei muss auf eine Vollbeschäftigung hinarbeiten. Gute Arbeit für alle ist ein Grundpfeiler der der SPD. Mit der aktuellen Vorgehensweise zur Berechnung ist dies nicht gegeben.
Andererseits ist die NAWRU wirtschaftswissenschaftlich hoch umstritten und in vielen Bereichen empirisch widerlegt. So zeigt sich, dass ein unterschreiten der NAWRU die Inflation nicht beschleunigt. „Nach Meinung des Federal Reserve Boards (FED) war diese Evidenz sogar so stark, dass das Board sich im Sommer 2020 entschied, sich nicht mehr auf die NAIRU (das US-Äquivalent zur NAWRU) als zentralen Indikator zu stützen. Stattdessen entschied man sich für ein Ziel des maximum employment.“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 3).
Wie beispielhaft oben ausschnittsweise beschrieben, bedarf es einer Reform der Konjunkturkomponente. Die Umsetzung ist, vor allem im Vergleich zur Schuldenbremse an sich, machbar und realistisch und würde die finanzielle Mittel des Haushalts prognostisch erweitern. Der Schuldenbremse zugestimmt zu haben ist einer der großen Fehler deutscher sozialdemokratischer Politik des frühen 21 Jahrhunderts. Die SPD muss nun die selbst verursachten „Fehler“, deren Fans sich vor allem bei der CDU und FDP befinden, angehen und korrigieren. Parallel ist keine Zeit des Sparens, sondern mindestens eines fünffach Wummps. Wir müssen als Land die Folgen der Corona-Pandemie bewältigen. Viele Menschen haben keine Perspektiven, der Zuschussbedarf der Sozialversicherungen steigen, die Klimakrise und ihre Folgen sind spürbarer denn je und wir stehen vor einem notwendigen Transformationsprozess, welche den gesamten Energiesektor umkrempeln muss. Nicht nur in Ostdeutschland verzeichnen wir einen immer weiterführenden Rechtsruck und viele Menschen sehnen sich nach einer Perspektive innerhalb dieser krisenhaften Zeit. Geld kann allein keine Probleme, aber für gute soziale Politik braucht man viel Geld. Eine Zeitenwende müssen wir ganzheitlich denken.
Daher fordern wir:
- Eine Neuregelung der Konjunkturkomponente durch parlamentarische Gesetzgebung
- Eine Einbeziehung der aktuellen Forschungsstandards
- Beteiligung des politischen Prozesses, nicht nur bei ungenauer Evidenz, sondern generell
- Das Anstreben der Vollbeschäftigung in Deutschland
Literaturverzeichnis:
- Krahè, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): „Wird die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse ihrer Aufgaben noch gerecht?“ Wirtschaftsdienst ZBW – Leibnitz – Informationszentrum – Wirtschaft
- Korioth, Müller (2021): „Die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse – Spielräume und Grenzen“ Wirtschaftsdienst ZBW – Leibnitz – Informationszentrum – Wirtschaft
Erfolgt mündlich.
Änderungsanträge
Status | Kürzel | Zeile | AntragstellerInnen | Text | |
---|---|---|---|---|---|
angenommen | ÄB11-1 | 5 | Ersetzen der Zeilen 5-43 mit: Als Jusos wollen wir auch weiterhin für dieses Anliegen kämpfen, debattieren und streiten. Zur Streichung der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz werden jedoch Zweitdrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat benötigt. Um diese zu erlangen, bedarf es eines gesellschaftlichen Konsens, an dem wir im Verbund mit anderen progressiven Kräften arbeiten werden. Dass nun auch Länderchefs der CDU mit Sondervermögen die Schuldenbremse umgehen oder sogar für ihre mittelfristige Aussetzung plädieren, spricht für sich. Aber auch innerhalb der SPD ist der Widerstand ausgeprägt. Man kann natürlich Verfechter*in von inaktuellen Wirtschaftstheorien sein, jedoch der aktuelle Finanzierungsbedarf ist enorm. Anstatt die Zukunft zu gestalten, sparen wir das Land kaputt. Das hat mittlerweile nicht mehr nur Auswirkungen auf die öffentliche Infrastruktur, sondern zeigt sich auch in der Privatwirtschaft. Unternehmen entscheiden sich reihenweise Investitionen in die USA zu verlagern. Die Dekarbonisierung bietet große wirtschaftliche Chancen, aber Deutschland entscheidet sich aktuell bewusst dagegen, diese wahrzunehmen. Wir verspielen fahrlässig unsere Zukunft. Fahrlässig ist es insbesondere, weil es auch ohne Grundgesetzänderung anders ginge. Die Schuldenbremse im Grundgesetz enthält keine quantitative Begrenzung der zulässigen Neuverschuldung. Stattdessen legt das Grundgesetz fest, dass die jährliche Nettokreditaufnahme die die konjunkturelle Entwicklung - beschrieben als Abweichung von der „Normallage“ der Wirtschaft - (symmetrisch) berücksichtigen soll. Die genaue Beschreibung bzw. Definition des Begriffs „Normallage“ wird nicht getätigt: „Das Verfahren zur Berechnung der maximal zulässigen Nettokreditaufnahme und insbesondere der Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung ist nicht im Grundgesetz festgehalten. Es ist einfachgesetzlich geregelt“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 1). Damit bleibt viel Interpretationsspielraum: „Die Bestimmung der Konjunkturkomponente und damit die Höhe der maximal zulässigen Nettokreditaufnahme (ist) am Ende stark von der Auslegung des Begriffs Normalauslastung abhängig, der im rechtlichen Kontext nicht weiter spezifiziert wird“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 2). Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Schuldenbremse liegt in der Hand der Bundesregierung, sie könnte sie heute ändern. Aktuell wird die zulässige Neuverschuldung in Abhängigkeit von der Produktionslücke berechnet. Sie „entspricht der Differenz zwischen dem geschätzten Produktionspotenzial (der Normallage) der Volkswirtschaft und dem erwarteten tatsächlichen BIP“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 1). Eine wissenschaftlich tragfähige Grundlage für die aktuelle einfachgesetzliche Ausgestaltung der Schuldenbremse gibt es dabei nicht. Im Gegenteil, die Schätzung des Produktionspotenzials, beziehungsweise der Produktionslücke hätte eigentlich niemals dazu genutzt werden sollen, ein quantitatives Kreditlimit zu berechnen (Vandermeulen et al., 2019). Dazu impliziert die heutige Methodik zur Schätzung des Produktionspotenzials normative Setzungen, die der Beschlusslage der SPD klar widersprechen. Anstatt zum Beispiel Vollbeschäftigung zu ermöglichen, wird von einer notwendigen Mindestarbeitslosigkeit ausgegangen. Anstatt Frauen und Männern gleichermaßen zu ermöglichen am Berufsleben teilzunehmen, wird davon ausgegangen, dass Frauen auch in Zukunft in wesentlich geringerem Maß erwerbstätig sind. Die heutige Ausgestaltung der Schuldenbremse sieht Gleichberechtigung nicht vor. | Änderungsantrag (PDF) | |
angenommen | ÄB11-2 | 67 |
Streichen von:
|
Änderungsantrag (PDF) | |
angenommen | ÄB11-3 | 79 | Ersetzen in Zeile 79-82 in: Es bedarf daher dringend einer Reform der Konjunkturkomponente. Die aktuelle Ausgestaltung der Schuldenbremse ist undemokratisch, da sie normative Setzungen technischen Verfahren überlässt, enthält Normen, die denen der Sozialdemokratie diametral widersprechen und ist wissenschaftlich unfundiert. Die Umsetzung einer solchen Reform ist, vor allem im Vergleich zur einer Grundgesetzreform, machbar und realistisch und würde die finanzielle Mittel des Haushalts prognostisch erweitern. | Änderungsantrag (PDF) | |
angenommen | ÄB11-4 | 97 |
Einfügen einer neuen Zeile nach 97:
|
Änderungsantrag (PDF) |
Als Jusos ist uns klar und hinreichend bewiesen, dass eine Schuldenbremse nichts im Grundgesetz verloren hat und gestrichen gehört. Diesbezüglich gab es innerhalb der Jusos und auch innerparteilich viele Debatten. Es bildet sich zunehmend eine Mehrheit heraus, die sich für eine Streichung der Schuldenbremse im Grundgesetz stark macht, wie auch der Parteikonvent im Willy-Brandt-Haus zeigte.
Als Jusos wollen wir auch weiterhin für dieses Anliegen kämpfen, debattieren und streiten.
Zur Streichung der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz werden jedoch Zweitdrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat benötigt. Um diese zu erlangen, bedarf es eines gesellschaftlichen Konsens, an dem wir im Verbund mit anderen progressiven Kräften arbeiten werden. Dass nun auch Länderchefs der CDU mit Sondervermögen die Schuldenbremse umgehen oder sogar für ihre mittelfristige Aussetzung plädieren, spricht für sich. Aber auch innerhalb der SPD ist der Widerstand ausgeprägt.
Man kann natürlich Verfechter*in von inaktuellen Wirtschaftstheorien sein, jedoch der aktuelle Finanzierungsbedarf ist enorm. Anstatt die Zukunft zu gestalten, sparen wir das Land kaputt. Das hat mittlerweile nicht mehr nur Auswirkungen auf die öffentliche Infrastruktur, sondern zeigt sich auch in der Privatwirtschaft. Unternehmen entscheiden sich reihenweise Investitionen in die USA zu verlagern. Die Dekarbonisierung bietet große wirtschaftliche Chancen, aber Deutschland entscheidet sich aktuell bewusst dagegen, diese wahrzunehmen. Wir verspielen fahrlässig unsere Zukunft.
Fahrlässig ist es insbesondere, weil es auch ohne Grundgesetzänderung anders ginge. Die Schuldenbremse im Grundgesetz enthält keine quantitative Begrenzung der zulässigen Neuverschuldung. Stattdessen legt das Grundgesetz fest, dass die jährliche Nettokreditaufnahme die die konjunkturelle Entwicklung – beschrieben als Abweichung von der „Normallage“ der Wirtschaft – (symmetrisch) berücksichtigen soll. Die genaue Beschreibung bzw. Definition des Begriffs „Normallage“ wird nicht getätigt: „Das Verfahren zur Berechnung der maximal zulässigen Nettokreditaufnahme und insbesondere der Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung ist nicht im Grundgesetz festgehalten. Es ist einfachgesetzlich geregelt“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 1). Damit bleibt viel Interpretationsspielraum: „Die Bestimmung der Konjunkturkomponente und damit die Höhe der maximal zulässigen Nettokreditaufnahme (ist) am Ende stark von der Auslegung des Begriffs Normalauslastung abhängig, der im rechtlichen Kontext nicht weiter spezifiziert wird“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 2).
Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Schuldenbremse liegt in der Hand der Bundesregierung, sie könnte sie heute ändern. Aktuell wird die zulässige Neuverschuldung in Abhängigkeit von der Produktionslücke berechnet. Sie „entspricht der Differenz zwischen dem geschätzten Produktionspotenzial (der Normallage) der Volkswirtschaft und dem erwarteten tatsächlichen BIP“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 1).
Eine wissenschaftlich tragfähige Grundlage für die aktuelle einfachgesetzliche Ausgestaltung der Schuldenbremse gibt es dabei nicht. Im Gegenteil, die Schätzung des Produktionspotenzials, beziehungsweise der Produktionslücke hätte eigentlich niemals dazu genutzt werden sollen, ein quantitatives Kreditlimit zu berechnen (Vandermeulen et al., 2019). Dazu impliziert die heutige Methodik zur Schätzung des Produktionspotenzials normative Setzungen, die der Beschlusslage der SPD klar widersprechen. Anstatt zum Beispiel Vollbeschäftigung zu ermöglichen, wird von einer notwendigen Mindestarbeitslosigkeit ausgegangen. Anstatt Frauen und Männern gleichermaßen zu ermöglichen am Berufsleben teilzunehmen, wird davon ausgegangen, dass Frauen auch in Zukunft in wesentlich geringerem Maß erwerbstätig sind. Die heutige Ausgestaltung der Schuldenbremse sieht Gleichberechtigung nicht vor.
Die Situation, dass der Begriff Normallage nicht konturiert ist, ist gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheiten problematisch. Allerdings birgt er auch den Vorteil, dass die Bundesregierung diesen gestalten kann. In der aktuellen Ermittlung der Konjunkturkomponente werden dabei auf unterschiedliche, mitunter kritische, Merkmale und Modelle zurückgegriffen, welche eine progressive ökonomische Sichtweise nicht ermöglichen oder zumindest stark behindern. So erfolgt die Schätzung des Produktionspotenzials durch eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion. Solche Modelle sind weit verbreitet und werden häufig benutzt. Geprägt sind sie allerdings durch die neo-klassische Ökonomik. Bei diesem Modell wird bspw. die komplette Nachfrageseite ignoriert und nimmt eine Vollauslastung der Kapazitäten an. Nicht nur aus sozialdemokratischer Brille, sondern auch durch eine progressiv-ökonomische Sichtweise kommt man schnell zur Erkenntnis, dass dies nicht der Fall ist und mit der Realität nicht viel zu tun hat. Allzu oft werden die Berechnungen einfach auf Basis statistischer Werte der vergangenen Jahre vollzogen. Die Schätzung des Arbeitspotenzials mit der NAWRU (non-accelerating wage rate of unemployment) getätigt. Die NAWRU ist die Höhe der Arbeitslosenquote, bei welcher es bei einer Unterschreitung dieser zu einer beschleunigten Inflation kommt. Als Grundlage der NAWRU dient die Phillips-Kurve, die einen negativen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beschreibt (niedrige Arbeitslosigkeit = hohe Inflation und andersherum).
Einerseits heißt das in der Konsequenz, dass eine echte Vollbeschäftigung nicht angestrebt wird, da man sich ansonsten mit einer beschleunigten Inflation konfrontiert sieht. Jedoch: „Das Grundgesetz gewährt zwar kein Recht auf Arbeit, jedoch lässt sich dem Sozialstaatsprinzip und den Grundrechten auf Berufsfreiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit der Verfassungsauftrag entnehmen, auf Vollbeschäftigung hinzuwirken“ (Korioth, Müller (2021): 4). Eine sozialdemokratische Partei muss auf eine Vollbeschäftigung hinarbeiten. Gute Arbeit für alle ist ein Grundpfeiler der der SPD. Mit der aktuellen Vorgehensweise zur Berechnung ist dies nicht gegeben.
Andererseits ist die NAWRU wirtschaftswissenschaftlich hoch umstritten und in vielen Bereichen empirisch widerlegt. So zeigt sich, dass ein unterschreiten der NAWRU die Inflation nicht beschleunigt. „Nach Meinung des Federal Reserve Boards (FED) war diese Evidenz sogar so stark, dass das Board sich im Sommer 2020 entschied, sich nicht mehr auf die NAIRU (das US-Äquivalent zur NAWRU) als zentralen Indikator zu stützen. Stattdessen entschied man sich für ein Ziel des maximum employment.“ (Krahé, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): 3).
Es bedarf daher dringend einer Reform der Konjunkturkomponente. Die aktuelle Ausgestaltung der Schuldenbremse ist undemokratisch, da sie normative Setzungen technischen Verfahren überlässt, enthält Normen, die denen der Sozialdemokratie diametral widersprechen und ist wissenschaftlich unfundiert. Die Umsetzung einer solchen Reform ist, vor allem im Vergleich zur einer Grundgesetzreform, machbar und realistisch und würde die finanzielle Mittel des Haushalts prognostisch erweitern. Der Schuldenbremse zugestimmt zu haben ist einer der großen Fehler deutscher sozialdemokratischer Politik des frühen 21 Jahrhunderts. Die SPD muss nun die selbst verursachten „Fehler“, deren Fans sich vor allem bei der CDU und FDP befinden, angehen und korrigieren. Parallel ist keine Zeit des Sparens, sondern mindestens eines fünffach Wummps. Wir müssen als Land die Folgen der Corona-Pandemie bewältigen. Viele Menschen haben keine Perspektiven, der Zuschussbedarf der Sozialversicherungen steigen, die Klimakrise und ihre Folgen sind spürbarer denn je und wir stehen vor einem notwendigen Transformationsprozess, welche den gesamten Energiesektor umkrempeln muss. Nicht nur in Ostdeutschland verzeichnen wir einen immer weiterführenden Rechtsruck und viele Menschen sehnen sich nach einer Perspektive innerhalb dieser krisenhaften Zeit. Geld kann allein keine Probleme, aber für gute soziale Politik braucht man viel Geld. Eine Zeitenwende müssen wir ganzheitlich denken.
Daher fordern wir:
- Eine Neuregelung der Konjunkturkomponente durch parlamentarische Gesetzgebung
- Eine Einbeziehung der aktuellen Forschungsstandards
- Ein demokratisch legitimiertes Verfahren
- Beteiligung des politischen Prozesses, nicht nur bei ungenauer Evidenz, sondern generell
- Das Anstreben der Vollbeschäftigung in Deutschland
Literaturverzeichnis:
- Krahè, Schuster, Sigl-Glöckner (2021): „Wird die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse ihrer Aufgaben noch gerecht?“ Wirtschaftsdienst ZBW – Leibnitz – Informationszentrum – Wirtschaft
- Korioth, Müller (2021): „Die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse – Spielräume und Grenzen“ Wirtschaftsdienst ZBW – Leibnitz – Informationszentrum – Wirtschaft